Seit gestern wieder eine Bindehautentzündung. Inzwischen gehe ich schon gar nicht mehr zur Ärztin, sondern nehme einfach die restlichen Tropfen des Antibiotikums in der vorgeschriebenen Menge und warte, dass es besser wird. Während draußen Sturm den Dauerregen ans Fenster peitscht, gehe ich gedanklich zurück in den Spätsommer.
Wenn ich lernen könnte, es sein zu lassen, mich sein zu lassen, die anderen sein zu lassen und trotzdem eine Haltung zu bewahren und mich mit dieser Haltung auseinander zu setzen. Und der Satz stimmt genau so wie er da steht. Unvollständig. Wir fahren jetzt häufiger übers Wochenende weg, weil eine „richtige“ Reise vor den Gegebenheiten, wie sie nun einmal sind, nicht möglich ist, und wir aber trotzdem ein bisschen Abstand brauchen. Mein Leben, alles, was ich tue, ist unterbrochen von Schmerzen. Es ist alles so aufreibend. P. geht es wieder schlechter, die Symptome sind zurück. Mit M. gibt es nur wenig Kontakt und der ist nach wie vor schwierig. Mein Glaube daran, dass das Schicksal schon weiß, wie es die Dinge und Begebenheiten arrangiert, diese irgendeine naive, vielleicht sogar gefährlich dumme Flucht vor den wahren Konflikten meines Lebens. Immer wieder Konflikte die mich überfordern.
Das Sterben um mich herum hört nicht auf. A. und T. verlieren ihre Geschwister. Vielleicht ist der Tod ein Wiedererkennen der Ungeborenheit. Vielleicht schließt sich ein Kreis und es ist sehr gut. Nur immer diejenigen, die zurückbleiben, leiden.
Wie um Himmels willen soll man denn hineinwachsen in diese ständig unwillkürliche Veränderung. In diese Einsicht, dass Veränderung das einzige ist, worauf man sich verlassen, woran man sich aber doch nicht festhalten kann? Als würde man in einem Haus leben, an dessen Abriss man ständig selbst beteiligt ist.
Eine Tasche voll Buchsendungen mit meinen einhundert Gesprächen zur Post bringen. Meine Träume geben sich die allergrößte Mühe mich zu analysieren. Danke Träume!
Während des Schreibens merken, dass mir das hier doch alles zu intim ist. Dass ich es lieber für mich behalte und unter Verschluss. Dass ich dieses Experiment gut finde, aber im Folgenden hier nur die literarischen Sachen teilen möchte. Die großartigen Bücher, die ich entdeckt habe. So etwas. Und der Rest bleibt hier, bei mir.
Spukhafte Fernwirkung zu lesen ist wie ein Spaziergang durch die Innenstadt einer Großstadt. Überall blitzen Gesichter und Geschichten auf und verschwinden wieder.
Der eigentliche Held der Geschichte, der rote Faden des Buches, ist das Leben selbst.
Es gibt keine Hierarchien in diesem Buch, weder die Zeit, noch eine der Personen, noch das Ereignis, das geschieht, wird in den Vordergrund gestellt. Alles existiert nebeneinander statt nacheinander und das vielleicht verblüffendste und schönste bei der Lektüre ist die Erkenntnis, dass das funktioniert.
Eines der menschenfreundlichsten Bücher, eines der uneiteltsten auch!
Und natürlich ist das gesellschaftskritisch. Aber es ist eine ganz neue Art von Kritik. Nicht nur sachlich, sondern irgendwie selbst den Dingen, die kritisiert werden, auf liebevolle Art zugewandt.
Wenn es überhaupt Helden gibt, irgendwelche Ordnungsprinzipien, dann sind das sie Orte, an denen die Menschen von denen erzählt wird, sich befinden. Das Einkaufszentrum, die Redaktion, die auf das Ereignis im Einkaufszentrum reagiert, Strecken, die gefahren werden in Bussen oder Zügen, in Autos oder Flugzeugen.
Dabei werden die Ordnungsprinzipien, oder die vorgegebenen Strukturmerkmale immer wieder variiert, es entsteht so eine große Vielfalt der Perspektiven, denn erzählt werden eher Momente als Geschichten. Erzählt wird von der reichhaltigen Vielfalt des Beutels, nicht davon, wer ihn trägt.
Es ist ein extrem welthaltiges Buch, weil dermaßen viel von dem, was unser aller Alltag, auch wirtschaftspolitisch, gesellschaftspolitisch, umweltpolitisch und allgemein ausmacht, darin vorkommt in höchst konzentrierter Form, und doch viel eindringlicher als in all den Schlagzeilen, die auf uns einprasseln, Tag für Tag.
Gute Besserung, von Herzen …
Ich denk an dich.