Die roten Stellen – Maggie Nelson

Ich lese Maggie Nelsons „Die roten Stellen“ und merke erst als ich anfange zu lesen, dass ich vergessen hatte, das Buch bereits gelesen zu haben. Schnell merke ich, dass ich sie heute ganz anders lese, als vor zwei, drei Jahren, als ich das Buch zum ersten Mal las.

Dieses Mal lese ich die roten Stellen in erster Linie als Beweis dafür, dass man viel aushalten kann, dass es möglich ist (vielleicht notwendig), Dinge zu recherchieren, sich Bilder anzusehen, sich Zusammenhänge klar zu machen, die außerordentlich schmerzhaft sind. Von denen man gerne behaupten würde: das halte ich nicht aus. Ich könnte das nicht. Man kann es, wenn es an der Zeit ist, wenn die Verhältnisse danach sind.

In den roten Stellen denkt Nelson über ein Zitat von D.W. Winnicott nach. „Ich behaupte, dass das, was uns klinisch als Angst vor dem Zusammenbruch begegnet, die Angst vor einem Zusammenbruch ist, der bereits erlebt wurde“. Sie schreibt dazu: „Erst vor kurzem habe ich begriffen, dass Winnicott damit nicht meint, Zusammenbrüche würden nicht wiederkehren. Jetzt erkenne ich, dass er vielleicht genau das Gegenteil meint: dass die Angst vor dem Zusammenbruch in unserer Vergangenheit vielleicht gerade den Grund dafür darstellen mag, warum wir ihn in unserer Zukunft wiederholen.“

Es gibt vieles was dabei bei mir anspringt.

Nelson schreibt über den Prozess anlässlich des Mordes an ihrer Tante, der nach über dreißig Jahren neu aufgerollt wird. Sie schreibt nach der Urteilsverkündung, dass die Verhandlung alte Wunden aufgerissen hat, sie schreibt, dass er gebrochene Personen hinterlassen hat, auf beiden Seiten. Kann man so mitfühlend schreiben, denken, fühlen? Kann sie das, weil die Straftat, die aufgerollt und verhandelt wurde so lange zurück lag? Ich weiß es nicht, aber mich beeindruckt, wie sie immer wieder benennt, dass die Justiz, die Presse, menschenverachtend sowohl mit dem Opfer als auch mit dem Täter umgehen. Im Fall des Opfers vermutlich „nur“ weil sie ihre Handlungen nicht überdenken, im Fall des Täters unter der Annahme, dass ein Mörder keine Rücksicht verdient, und die Angehörigen des Täters vermutlich selbst schuld sind, jedenfalls sind das Kollateralschäden, die man hinnimmt.

Manche Dinge sind es vielleicht wert, erzählt zu werden, einfach nur, weil sie passiert sind.“ ist eine der Stellen, die ich mir während des Lesens markiert habe.

Schreibe, was du gesehen hast, und was da ist, und was geschehen soll danach.“,eine weitere.

Andere Stellen habe ich markiert, weil sie eine Tür in die Vergangenheit öffnen. Meine Vergangenheit. Meine gemeinsame Vergangenheit mit bestimmten Menschen.

Schließlich noch dieses Zitat: „Ich bin mir nicht sicher, aber dieses Foto ist vielleicht das schlimmste von allen. Es hängt davon ab, was man unter dem Schlimmsten versteht. Das Foto zeigt, wie eilig der Körper es hat, sich selbst zu heilen, auch wenn er gerade dabei ist zu sterben.“ So ähnlich, denke ich, ist es vielleicht mit dem Verstand. Der es eilig hat, sich selbst zu heilen, während er am Rande dessen operiert, was erträglich ist.

Und hier ein Satz, der vielleicht als Ursache gelten kann, warum es der Verstand schwer hat und immer wieder gezwungen ist, sich selbst zu heilen: „Außerdem glaube ich langsam, dass es Ereignisse gibt, die nicht „verhandelt“ werden können, Dinge, die nicht „abgehakt“ werden können, über die man nicht einfach sagen kann, man habe „genug“.“

Die roten Stellen. Viele von ihnen bleiben. Auch wenn sie verzweifelt versuchen, sich selbst zu heilen.

 

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