Geschichten darüber, wie Frauen den geraden, den scheinbar vorgezeichneten Weg verlassen. Diese Geschichten haben Maria Christina Piwowarski gefehlt, und dann hat sie sie schreiben lassen, von Autorinnen, die ihr etwas bedeuten, die sie schon länger auf ihrem Weg begleiten und dieses Buch entstehen lassen, das ich seit gestern lese. Sehr gerne lese.
In jedem Leben gibt es eine Vielzahl an Wendepunkten. (Paul Auster hat damit gespielt in 4 3 2 1, indem er eine Lebensgeschichte immer anders erzählte, einfach nur weil eine Entscheidung irgendwo im Lebenslauf anders getroffen wurde).
Ich selbst merke immer erst hinterher; da also ist so eine Kreuzung gewesen, da gab es einen Richtungswechsel. Erst im Nachhinein, viel später, wird mir deutlich, dass es so etwas wie einen Wendepunkt gegeben haben muss.
In dieser sehr lesenswerten Anthologie jedenfalls macht jeder Beitrag eine neue Welt auf, berührt andere Themen. Manche üben Selbstfürsorge, andere beleuchten das sogenannte weibliche Schreiben von unterschiedlichen Perspektiven, wieder andere erzählen von der großen Bedeutung von Freunden, die einem helfen, die Bruchstellen im eigenen Leben zu erkennen und den Mut zu finden, Wege abzubrechen, die vielleicht in eine Art Wohlstand aber ganz bestimmt nicht zur eigenen Bestimmung führen. Oder sie erzählen von Müttern, die Wege abbrechen, um die Last eines nicht selbst verschuldeten Erbes, abzuschütteln. Von der Schwierigkeit und dem Mut, sich selbst einzugestehen, ein Opfer von Gewalt zu sein, eine erfrischend böse Geschichte über Wut, List und die Umkehr von Größenverhältnissen, und immer wieder erzählen die hier versammelten Geschichten vom Überschreiten von Grenzen.
Am stärksten berührt hat mich der Text von Christine Koschmieder. Das hat viel mit meiner aktuellen Situation zu tun, aber auch mit ihrer Haltung, mit dieser rücksichtslosen Aufrichtigkeit, die ich so bewundere, die manchmal vielleicht wie Härte aussehen mag. Als ich Koschmieder nach dem Lesen google, erinnere ich mich, dass ich sie damals im „Nachtcafé“ bereits gesehen habe, in dieser Talkshow (was für ein grauenhaftes Wort), erzählte sie von ihrer Zeit als „funktionale Alkoholikerin“.
„Das Wesen von Scham besteht darin, dass sie auf unserer Schulter sitzt und uns einredet, von einem Makel befallen zu sein, von etwas, das andere Menschen dazu bringen könnte, sich abzuwenden. Praktischerweise sorgt die Scham dann auch gleich noch dafür, dass wir den Fehler bei uns selbst suchen und nicht im System.“ schreibt Christine Koschmieder, und weiter:
„Scham, so das berühmte Zitat der Schamforscherin Brené Brown, braucht drei Nährstoffe, um zu gedeihen: Heimlichkeit, Schweigen und Bewertung. Was aber passiert, wenn ich sie nicht mehr füttere? Dann verliere ich nicht etwa Freunde, Wertschätzung, Ansehen oder einen Job. Ich verliere nur eines: die Ohnmacht […]
„Zu erkennen, dass die Grenzen dessen, was wir sein, fühlen, denken und spüren dürfen, deswegen so beschämend sind, weil sie nicht die eigenen sind. Weil wir versucht haben, einem Bild und Anspruch gerecht zu werden, gegen den sich etwas in uns sträubt.“
Ein unglaublich blauer Himmel. Ich brauche mehr Zeit. Mehr Zeit und Muße (in Form von gelassener Geduld) um endlich wieder viel mehr zu lesen.
Das Buch liegt hier bereit, und es ist mir durch deine Besprechung noch ein Stück näher gerückt!
Dank und Gruß von Sonja
Den letzten Satz unterschreibe ich.
Über Scham (und Stigma) habe ich in der letzten Zeit viel nachdenken müssen.
Tage die so beginnen, beginnen gut. Dein Beitrag hat mich sehr berührt berührt er mich noch immer. Es ist genau dieses Gefühl der Scham, über welches ich oft nachdenke, es fühle. ohne deinen Text , hätte ich es nicht benennen können. und dann fungiert so ein Text plötzlich wie ein Wegweiser. Danke für dein Schreiben und für dein Aufmerksam machen.
Habe mir e nun das Literarische Quartett angesehen. ich verstehe überhaupt nicht, was diese Einteilung in Literatur und Nichtliteratur eigentlich soll. ist das nicht nebensächlich?
Ich fordere manchmal an Thea Dorn ab. Sie ist hart im Urteilen, aber auch klug mit einer Leichtigkeit. Joachim Meyerhoff habe ich sehr gern zugehört.
ich guck das schon lange nicht mehr. gibt es da eine sendung in der über “dry” gesprochen wird? Oder auf welche folge des literar. Quartetts beziehst du dich?