Vor der Fahrt nach Hannover.
Ich mache gestern zum letzten Tag an dem ich mir erlaubt habe, durchzuhängen, mich gehen zu lassen und zu jammern. Ab heute kämpfen, zusammenreißen, arbeiten.
Dinçer erzählt in einem Interview mit Iryna Herasimovich von der kindlichen Fantasie, dieser magischen Welt, die er auch nicht verlassen hat, als er längst kein Kind mehr war. Und mir wird klar, dass ich genau das verloren habe. Irgendwann im letzten Jahrzehnt. Die Leichtigkeit mit der Bilder und Welten entstehen, die Gleichgültigkeit ob irgendetwas davon kohärent oder relevant ist. Dieser Spaß am Erfinden, die Freude daran, mich auf den Sprachfluss und auftauchende Bilder einzulassen.
Mit diesen Gedanken steige ich in den Zug nach Hannover.
Ich muss Mut sammeln, denke ich. So wie ich die auf dem Weg liegenden Kastanien aufsammle und mir in die Manteltasche stecke. Jahr für Jahr. Und jedes Mal denke ich dabei an meinen Großvater. Wie er mir erzählt hat, dass Kastanien in der Tasche gegen Rheuma helfen. Wie er selbst also ständig eine oder zwei Kastanien in der Jackentasche hatte.
Dann fahre ich endlich, nachdem ich zuvor wie üblich (eigentlich hätte ich es gleich berücksichtigen können) eine halbe Stunde warten muss, bis der Zug endlich losfährt.
Ich muss begreifen, denke ich, dass meine Art des Sammelns mit dem Loslassen beginnt. Aber dass es ebenso bedeutet, wiederzufinden, was ich verloren habe. Dass es letztendlich darum geht, mich neu auszurichten.
Vor dem Zugfenster zieht das Bild einer Anhöhe vorbei, die zur Hälfte im Nebel versinkt, überblendet vom Spiegelbild eines Kindes, das im Arm der Mutter in einem Gebiet aus Frieden und bedingungsloser Liebe geborgen ist.
Das Hotelzimmer ist winzig. Die Minibar, die ich, wie man mir beim Einchecken versicherte, nutzen kann, hält Wasser, Bier, einen löslichen Kaffee und Kamillentee bereit. Der Blick geht auf das Galeria Warenhaus. Aber es ist warm und ruhig. Und sowieso nur für eine Nacht.
Und dann findet diese beeindruckende Lesung statt. Mit 14 Dichterinnen, die zu den Exponaten geschrieben haben und davon erzählen, wie sie sich angenähert haben, wie es letztendlich zu dieser Nahaufnahme gekommen ist. Jede Einzelne wird vor dem Auftritt liebevoll vorgestellt und während der ganzen Zeit ist eine große Aufmerksamkeit im Raum. Man spürt förmlich die Solidarität. Ich weiß, dass das alles andere als selbstverständlich ist, weil ich es häufig genug anders erlebt habe. Umso schöner, umso wertvoller sind Momente wie diese. Nach den Lesungen gibt es eine sehr schöne wertschätzende Rückmeldung aus dem Publikum und als viele von uns noch zum Essen ins angegliederte Café gehen, sind wir, glaube ich, alle sehr glücklich dabei gewesen zu sein.
@muetzenfalterin@muetzenfalterin.blogda.ch Das klingt ganz wunderbar. Ich freue mich sehr.@Muetzenfalterin@mastodon.social
zu welchem Zeitpunkt hast du gejammert? sind es nicht gerade die Unebenheiten, die mehr zeigen? Die Anpassungsschwierigkeiten, das Einstellen auf neue Gegebenheiten.
Es klingt nach einer sehr besonderen und intensiven Lesung.
Spannend, beim Fahrradfahren entdeckte ich ein Bild auf Leinwand, hohe Berge, einsame Hütte. ich nahm es mir t und dachte, es wäre einen Versuch wert, sich die befahrene Straße vorm Haus oder die im Callcenter arbeitende Nachbarin ( mit Homeoffice) wegzudenken, sich eine eigene Wirklichkeit zu imaginieren. Schwierigkeiten im Blogbzu Hennen, hat für morgen ch nichts mit Jammern zu tun. im Gegenteil, es macht nahbarer.
ja, das stimmt, das Jammern habe ich privat gehalten, das gehört nicht hier her, deswegen ist das verkehrt gewesen, dieser Satz hätte auch nicht hergehört. Es gibt ja einen Unterschied zwischen der Benennung von Schwierigkeiten, wie du das gut ausdrückst und “jammern”. Das eine ist eine Art Bestandaufnahme, die bestenfalls die Basis dafür herstellt, sich den Problemen zu stellen, notwendige Schritte einzuleiten oder wenigstens zu beginnen, darüber nachzudenken und das andere, das Jammern ist destruktives Selbstmitleid (zu unterscheiden von Selbstfürsorge und Nachsicht mit sich selbst).
Die Lesung war richtig belebend und (auch wenn das seltsam und esoterisch kling fällt mir kein passenderer Begriff ein) nährend.
Oh, das war wundervoll zu lesen.
Du warst mir sehr nahe. Danke fürs Teilen und Mitnehmen. Ich wünsche dir und uns allen, dass wir uns an unsere magischen Kräfte erinnern [ob man sie nun für wirklich existent hält oder sie als kindliche Imagination, die den Mehrwert eines erfüllteren Lebens mitbringt betrachtet].
Die Welt hat uns vielleicht zu oft gesagt, dass erwachsen sein bedeuten würde, sich Ernsthaftigkeit des Lebens ganz zu verschreiben, aber vielleicht kommt es letzten Endes darauf an, sich selbst zu glauben und [natürlich] zu erinnern.
Der Satz “Wie gerne wäre ich an diesem Abend dabei gewesen.” verwandelt sich in: “Durch die Verbindung zu dir, bin ich dabei gewesen.”
Ich freue mich so sehr, dass du in Gedanken verbunden warst, vielleicht habe ich das sogar gestern schon gespürt. Es war wirklich eine außerordentliche Atmosphäre.
Und ja, die Magie, den Glauben daran, ich bin fest entschlossen mir diese Dinge zurück zu erobern.
das klingt in der tat ganz wunderbar, die lesung, aber auch dein beitrag insgesamt hier. und ja, es ist eine kindliche leichtigkeit, die so gern abhanden kommt, da fällt mir das gedicht von hilde domin ein… “wer es könnte”. einfach mal blatt sein im wind. oder so. 🙂
Danke für den Hinweis, Diana, ja vielleicht hilft es wieder diese Art von Gedichten vermehrt zu lesen. Danke für Deine Gedanken zu meinem Text.
@muetzenfalterin@muetzenfalterin.blogda.ch „Ich muss begreifen, denke ich, dass meine Art des Sammelns mit dem Loslassen beginnt. Aber dass es ebenso bedeutet, wiederzufinden, was ich verloren habe. Dass es letztendlich darum geht, mich neu auszurichten.”Oh. Ich lerne grad, daß nur weitersammeln kann, wenn ich endlich auch loszulassen vermag. Und jetzt frage ich mich, ob da auch das Wiederfinden dazugehört und vielleicht die Akzeptanz des Verlorengegangenen. Da ich (wie ich glaube) nie nur eine Richtung kannte, sondern mäanderte, frage ich mich auch, ob eine Ausrichtung mir helfen könnte. (Danke für die Denkanstöße.)Schön, daß die Lesung eine so wohltuende Erfahrung war trotzdes winzigen Zimmers …
Danke für die wichtige Ergänzung, Emil, “die Akzeptanz des Verlorengegangenen”!
Danke für die wichtige Ergänzung, Emil, “die Akzeptanz des Verlorengegangenen”!