
Ich trage seinen Pullover. Der Pullover ist weinrot, er reicht mir bis über die Knie, ich verschwinde fast darin. Wir sind irgendwo in den Bergen. Ich lache, wie ich immer lache auf Fotografien, auf denen ich gemeinsam mit meinen Vater abgebildet bin.
Drei Jahre später: ich halte eine Schultüte im Arm, meine Mutter hat mich in ein Dirndel gesteckt, eine Zahnlücke schmückt meinen lachenden Mund. Ich stehe am Grab meines Vaters. Nach der Einschulung sind wir zu seinem Grab gefahren, an dem wir jeden Samstag mit Unkraut zupfen, Blumen gießen und all den Arbeiten, die man an einem Grab verrichten kann, verbringen.
Vielleicht sieben oder auch neun Jahre später, ich erinnere mich tatsächlich nicht an den genauen Zeitpunkt, bin ich allein am Grab meines Vaters. Ich stehe einfach da und denke nichts. Und dann geschieht es. Plötzlich ist eine Verbindung da. Ich spüre die Anwesenheit meines Vaters. Er ist einfach da, er gibt mir Sicherheit und das Gefühl, egal, was passiert, an meiner Seite zu sein. Dann ist es vorbei. Es wird nie wieder geschehen. Und ich werde es niemals vergessen.
Mein Vater war das fünfte Kind seiner Eltern, er hatte drei Brüder und eine Schwester. Er musste viel zu früh Verantwortung übernehmen und verlor früh seine Haare, aber niemals seine tief verwurzelte Herzlichkeit. Das meiste, was ich von ihm erzählen könnte, habe ich mir aus Erzählungen und Bildern aus dem Fotoalbum zusammengereimt. Ich selbst habe ihn nur sehr wenige kostbare Jahre erlebt. Ich war vier als so krank wurde, dass er die meiste Zeit im Krankenhaus verbrachte, schon vorher war er oft wochenlang in irgendwelchen Kuren. Ich war fünf als ich meine Mutter am Telefon zu irgendeinem Menschen sagen hörte: Klaus ist tot. Ich hatte keine Möglichkeit, das zu verstehen, aber ich fühlte mich jahrelang schuldig, weil ich meine Mutter nachdem dieser Satz in meinem Kopf gewütet hatte, fragte: Wie geht es Papa?
Ich lebe seither mit einer großen Lücke, aber auch mit der wertvollen Erinnerung daran, dass es ihn gab, und so lange geben wird, wie ich mich an ihn erinnere. Er wäre ein wunderbarer Großvater geworden.
Gestern noch schrieb mir eine Bekannte, die kürzlich ihren Vater verloren hat, wie wenig von einem Leben am Ende übrigbleibt. Die Zeit, schrieb ich zurück, zerträgt das Leben, mahlt es zu feinem Staub. Übrig bleibt davon am Ende nichts. Nichts, was man anfassen könnte. Und doch bleibt ganz viel, es wird tradiert in Erzählungen. Früher war das ganz selbstverständlich, heute erscheint uns das seltsam. Als Kind habe ich den Familiengeschichten meiner Mutter gelauscht, heute gebe ich diese Geschichten an meinen Sohn weiter. Aus dem Elternhaus meiner Großeltern gibt es nichts mehr, was man anfassen könnte. Aber wir sind da, weil sie da waren, und wir besitzen, was sie besaßen. Weit, weit geht das zurück, meine Eltern, dann ihre Eltern, dann deren Eltern und deren Eltern und deren Eltern. Alle sind jetzt hier, alle stehen sie hinter jeder neuen Generation und kein Leben war umsonst gelebt. Das gibt mir Trost. Und Halt. Und Hoffnung.
Was für ein liebevoller Text.
(Ich weiß nicht, ob ich das kann, aber ich würde gern und vielleicht tu ich es auch. Beim Vater ist es vermutlich einfacher als bei der Mutter.)
Die Wahrheit der Erinnerungen, denke ich. Vielleicht die einzig wahre Wahrheit und dennoch so subjektiv und fragil.
Ich glaube für mich war es sogar schwieriger eine Hommage an den Vater zu schreiben. Das hat nichts mit Bindung, Vermissen und Liebe zu tun, sondern damit, dass ich einfach viel weniger Zeit mit ihm hatte. Aber warum diese Hommage hier steht und keine für meine Mutter liegt daran, dass ich mich erinnert habe, ihr bereits eine geschrieben zu haben, auf Anregung von Margarete Helminger: https://www.graugans.org/24-t-mutmassungen-ueber-meine-mutter-tag-10-elke-engelhardt/
Und vielen Dank für deinen schönen letzten Satz über Wahrheit und Erinnerung!