Lori Gottlieb – Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

“Dieses Buch ist so mutig, so wahr, tief empfunden und fesselnd“, steht auf dem Buchdeckel, und eigentlich schrecken mich solche Aufreihungen von Superlativen eher ab, aber dieses Mal muss ich nach wenigen Seiten zugeben, der Mann, der das behauptet, es ist kein Geringerer als Irvin D. Yalom, hat Recht. Lori Gottlieb kann verdammt gut schreiben und sie hat etwas zu sagen.

Die Art wie sie in diesem Sachbuch-Roman unterschiedliche Patient:innen sowie ihre eigenen Therapieerfahrungen als Patientin und ihren beruflichen und persönlichen Werdegang nicht nur miteinander, sondern auch mit theoretischen Fakten zum Therapieverfahren und zu bestimmten Krankheitsbildern verknüpft, ist meisterhaft und liest sich absolut unterhaltsam und ja, tatsächlich „fesselnd“.
Ein bisschen ist das Lesen selbst wie eine sehr gute Therapiestunde. Wenn z.B. solche Sätze da stehen: „Es gibt einen Unterschied zwischen Schmerz und Leiden […] Sie müssen Schmerz empfinden, jeder fühlt gelegentlich Schmerz. Aber Sie müssen nicht so viel leiden. Sie aber entscheiden sich nicht für den Schmerz, sondern für das Leid.“ Oder dieser: „Veränderung ist ohne Verlust nicht zu haben.“
Es gibt viele solcher Sätze, die man unterstreichen oder an den Kühlschrank heften kann, was dieses Buch aber zu viel mehr macht als zu einer Fundgrube für Zitate, ist die Tatsache, dass Gottlieb wirklich das Talent hat, sich mit allem zu verbinden, mit ihrem Beruf, mit ihren Patient:innen, mit sich selbst und sogar mit dem Schmerz.

So erzählt dieses Buch von Trennung und Trauer und von der schwierigen Aufgabe, Verlust durch die Annahme von Verantwortung in Veränderung zu überführen. “Einsicht erlaubt uns, uns diese Frage zu stellen: Ist dies etwas, was mir geschieht, oder tue ich mir das selbst an?“

Das gesamte Buch zeichnet mit ineinander verschränkten Geschichten den Verlauf einer Erkenntnis, den Ablauf einer gelungenen Therapie nach. Und behandelt wie nebenbei all die schwierigen Themen, deren Auftreten willkürlich oder konstruiert erscheinen könnten, in Wirklichkeit aber gehören sie ja zusammen, weil es die Herausforderungen sind, die unser Leben ausmachen, weil die Art wie wir mit ihnen umgehen, unseren Lebensweg bestimmt.

Im Grunde erzählt Gottlieb Geschichten vom Heilen, davon, wie Menschen sich ihrer Muster bewusst werden und dadurch die Möglichkeit erhalten, sie zu ändern. All das geschieht subtil, scheinbar von selbst.

Sie erzählt auch davon, dass Menschen in der Therapie häufig nicht das bekommen, was sie sich wünschen, stattdessen aber das, was sie in diesem Moment ihres Lebens brauchen. Und dass sich das häufig überhaupt nicht angenehm anfühlt.

Der Umgang mit Ungewissheit ist ein großes Thema und die Möglichkeit vor zwei Alternativen gestellt, zu antworten: „ich entscheide mich für keins von beiden“.
Mir eröffnen sich während des Lesens viele Gedankenwege. Zum Beispiel überlege ich, dass die traurigen Bilder und Bücher und Filme, die wir schön finden, vielleicht ein Versuch unseres Unbewussten sind, uns darauf hinzuweisen, dass das Schöne und das Traurige zusammenhängen, dass überhaupt alles zusammenhängt, und deshalb die Entscheidung zwischen Gegensätzen selten der richtige, erlösende Weg ist.

1 thought on “Lori Gottlieb – Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

  1. Ich finde deine Buchbesprechungen einfach richtig gut. Dieser persönliche Blick drauf hebt deine Rezis meiner Meinung nach von Standardrezensionen ab.

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