Jahresrückblick 2023 – Juli

Merkwürdig diese Gleichzeitigkeit von neuem Jahr und Rückblick. Überall wünschen sich die Menschen ein gutes neues Jahr, und ich tue das auch, ich wünsche jeder einzelnen, die hier liest nur das Allerbeste für das neue Jahr, Frieden mit sich und mit ihren Mitmenschen, Freundlichkeit und Gesundheit natürlich und für die Welt, dass endlich gute friedliche Lösungen gefunden werden für all die quälenden Konflikte überall.

Aber jetzt gehe ich mit meinen Gedanken zurück in den Sommer. Juli. Und was das für ein Monat war.

Vielleicht passt es sogar ganz gut zu dem, wie das Leben eben ist, noch mitten in etwas Altem zu stecken, während das Neue längst begonnen hat.

Im Juli habe ich weiter über Ungeduld und ihren Ursprung nachgedacht. Tanja Maljartschuks bewegende Rede zur Eröffnung der Bachmanntage hat mich lange und schmerzlich begleitet.

Kurz nach dieser Rede habe ich meinen Geburtstag gefeiert. Dabei aufs Schönste überrascht worden. Gemerkt, dass das wirklich das Allerschönste ist, etwas geschenkt zu bekommen, ohne dass man es im geringsten erwartet. Überhaupt Erwartungslosigkeit.

Andererseits wieder dieses ständige Hadern mit mir selbst: Ich weiß nicht mehr, wie arbeiten geht. Das konzentrierte Sammeln von etwas. Das Warten auf einen Einfall. Das Streichen und neu anfangen. Die Geduld. Die Beharrlichkeit und die Hingabe. Ich habe das alles vergessen.

In einem Interview werde ich gefragt, wie meine Tage jetzt aussehen. Ich fasele etwas von Vogelgezwitscher und freier Zeiteinteilung, aber in Wirklichkeit ist es so, dass ich meine Tage nicht strukturieren kann, dass alles zerfasert. Und das ist weit entfernt von Freiheit oder Müßiggang. Ich weiß nicht, was ich lesen soll, springe von Artikel zu Artikel, um dann doch ein Gedicht zu lesen, auf das ich mich ebenso wenig konzentrieren kann. Ich mache halbherzig meine Übungen, habe dabei aber mehr die Uhrzeit als meinen Körper im Blick. Ich erstelle immer wieder Stundenpläne und Listen, und bin dann nicht einmal einen winzigen Moment glücklich, wenn ich sie einfach über den Haufen werfe. Manchmal gelingt mir an einem so von mir selbst zerfledderten Tag dennoch etwas und dann bin ich dankbar, aber es führt niemals dazu, dass ich etwas ändere. So habe ich weder Disziplin noch Freiheit. Und dieses Dazwischen fühlt sich wirklich nicht gut an, warum in aller Welt also ändere ich es nicht? Ich habe eine Ahnung von der Antwort. Aber noch macht sie mir zu viel Angst, um sie zu formulieren. Plötzlich die „Erkenntnis“: es geht nicht darum, jegliche Verletzung um jeden Preis zu vermeiden, sondern darum, möglichst heilsam mit ihnen umzugehen.

Das Zittern, das mich ausradiert.

Wir spüren längst deutlich, dass M. uns anlügt, oder wenigstens große wichtige Teile verschweigt, aber wir finden keinen Weg, ihn damit auf konstruktive Art und Weise zu konfrontieren. Stattdessen Gedankenspiralen und nur sehr wenig Schlaf. Und dann klären sich die Verhältnisse und statt Unsicherheit ist da Unglauben und Schmerz. Es geht weiter in der Geschichte, denn so kommt mir mein Leben gerade vor, nicht wie mein Leben, sondern wie ein ziemlich irreale Geschichte.

Die Sonne brüllt dich an. Der Regen brüllt dich an. Die Stille brüllt dich an. Einfach alles brüllt dich an, seit dein Kind gegangen ist. Erst brüllst du mit. Dann gewöhnst du dich daran. Der Schmerz, die Leere, die Angst, sind jetzt Teil deines Lebens. Wo früher dein Kind war, seine Schuhe auf der Treppe, sein langes Gesicht am Abendbrottisch ist jetzt Leere, Schmerz, Angst. Seit Samstag ist es, als wäre ich von einer Sekunde auf die nächste in einem Film gelandet. In einem dieser Filme, wo man sich die ganze Zeit denkt, meine Güte, das müssen die Eltern doch gemerkt haben, warum machen die denn nichts? Warum reden sie nicht mit ihm? Das müssen die doch einfach mitkriegen, wenn sie sich auch nur ein klitzekleines bisschen für ihr Kind interessieren.

Ich lese Elegie von Mary Jo Bang und mich interessiert in keiner Weise wie es gemacht ist, dass hier die Sprachlosigkeit eine neue Form findet, dass der Trauergesang auch eine Inszenierung, Theater, ist. Mich treffen nur diese Worte einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. Dieser Schrei, dem sie Worte abgerungen hat. Worte, die zeigen, dass Worte nie genügen und Worte, die mich trösten, die mir das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Verstanden zu werden. Die Trauer darüber, dass unsere Kinder nicht dort sind, wo wir sie gerne hätten, schreibt D. Wie einfach alles noch vor, sagen wir mal, einem Jahr gewesen ist. Was für ein Jahr dieses Jahr ist. In dem nachdem gerade einmal gut die Hälfte der Zeit vergangen ist, meine Welt an mindestens drei entscheidenden Stellen eingestürzt ist.

Ich lerne so viel über mich wie selten in meinem Leben. Es ist keine einfache Lektion. Es sind auch keine schönen Erkenntnisse, die dabei herauskommen. Aber ich fürchte, es ist bitter notwendig.

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