Dieser Umgang mit der Vergangenheit bedeutet die Notwendigkeit einer Transformation. Wir erzählen uns eine Geschichte. Eine Geschichte, die möglicherweise in entscheidenden Punkten von der ursprünglichen Geschichte abweicht, oder wir machen Skulpturen aus der Vergangenheit wie Louise Bourgeois. Wenn wir schreiben, dass wir uns an der Vergangenheit abarbeiten, heißt das, dass wir eine Form suchen, dass wir versuchen, die Vergangenheit so zu formen, dass sie sich tatsächlich verwandelt.
„Luce Irigaray: „Falls wir uns weiterhin in der gleichen Sprache sprechen, werden wir die gleiche Geschichte reproduzieren.“
Natürlich ist dieses Zitat weitreichender auszulegen. Aber für mich bedeutet es jetzt und hier, dass ich meine eigene Erzählung schreiben darf, wohl wissend, dass sie abweicht von den Erzählungen anderer, die Figuren derselben Erzählung sind. Vielleicht ist das der Kern dieses Zitates, der Weisheit die in dieser Aussage liegt. In unseren Lebensgeschichten gibt es keine Wahrheit, sondern nur viele verschiedene Wirklichkeiten.
Der nächste Satz, den ich mir angestrichen habe passt zu den vorherigen Überlegungen. Vielleicht ein Zufall, vermutlich aber nur ein Zeichen, dass ich längst etwas auf der Spur bin, von dem ich noch nicht weiß. „Fotografien bilden die Turbulenzen unter der Oberfläche nicht ab.“ Wenn ich diesen Satz jetzt lese, nachdem ich mir Gedanken zu unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Geschichten und Erinnerungen gemacht habe, kommt es mir vor, als wäre die Fotografie noch einmal eine Übersetzung in ein Bild dessen, was ich mir vorher klar gemacht habe. Wir scheinen alle dasselbe zu sehen, eine Frau, die neben einem kleinen Mädchen auf einem Strandstuhl sitzt, beide haben die Beine übereinander geschlagen, beide lächeln in die Kamera. Die Geschichte die diesem Bild zugrunde liegt ist für jeden Betrachter, der die beiden nicht kennt, ein Geheimnis und selbst für diese zwei Menschen, die zur selben Zeit dort waren und fotografiert wurden, gibt es eine Geschichte für diesen Moment, den die andere nicht kennt. Die Erschütterung wenn ich das Bild heute ansehe, und ich sehe es fast jeden Tag an, denn es liegt auf meinem Schreibtisch, war zu dem Zeitpunkt, als das Foto aufgenommen wurde, noch nicht absehbar.
@muetzenfalterin
Danke für diesen Gedankenanstoß.
Dieses Wahrsein, dieses Fürwahrhalten, diese Wahrnehmung … genau das ist es doch, was Erinnern so schwierig macht, was die ganze Vergangenheit so schwierig handhabbar macht: Sie ist nicht vergangen, sie lebt in uns und zwar niemals objektiv … und sie wandelt sich mit jedem neu eingenommenen Blickwinkel und mit jedem Reifeschritt, den wir gehen, stetig.
Ich mag deinen Zugang zu diesem so komplexen, unfassbaren Thema sehr.
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