Lesetagebuch – Die Rebellion der Liebenden (3)

Ja, langsam sind wir schneller, im Sinne von, in Langsamkeit geschieht das Richtige, ohne dass wir noch so viel mehr tun müssen, als das zu sein, was wir sind.“

Allerdings ist natürlich genau das die schwierigste Übung; zu sein, wie man ist, wer man ist. Weil man es nicht weiß, weil es so tief unter Erziehung, Alltag, Enttäuschungen, Vorschriften und Anforderungen vergraben ist. Weil ich immer wieder schnell weggehe von dieser Frage, wer ich eigentlich bin, was ich eigentlich will.

Ich lege Listen über diese Frage, vollgepackte Tage, nur manchmal Nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, holt mich die Frage ein. Die vielleicht gar nicht beantwortet werden will, sondern angesehen. Auch hier geht es darum, sich selbst und die eigenen Gedanken zu entschleunigen, um an den Punkt zu kommen, wo so etwas wie Wahrhaftigkeit aufscheint. Für die Langsamkeit brauche ich Mut. Für den aufrechten Gang brauche ich Zeit, für die Aufrichtigkeit brauchen wir alle Zeit. Aufrichtigkeit ist mit schnellen Antworten, mit schwarz-weiß Einordnungen nicht möglich. Für Aufrichtigkeit muss ich mich öffnen, dem Gegenüber, der Welt, den Fragen oder Behauptungen (wie beängstigend oder abscheulich sie auch sein mögen) Raum geben, sie wirklich wahrnehmen, bevor ich reagiere.

Als meine Kinder in der Grundschule waren, gab es einen Informationsabend, in dem es um sexuellen Missbrauch ging. Studien hatten ergeben, wurden wir unterrichtet, dass einem Kind durchschnittlich dreimal nicht geglaubt wurde, wenn es einem Erwachsenen erzählte, dass ein anderer Erwachsener Dinge mit ihm tat, die er nie hätte tun dürfen. Ich weiß noch wie ich sofort dachte: Das darf nicht wahr sein. Weil das viel leichter war, weil es mich davon abhielt, mir die Dimension der Verzweiflung der Kinder vorzustellen, weil es mich davon abhielt ihr Leid nachzuempfinden. Weil es immer leichter erscheint, die Tatsachen, die uns nicht gefallen, die uns Angst und Kummer machen, abzustreiten, zu sagen: Das darf nicht wahr sein. Erst danach, langsam, können wir versuchen zu begreifen, wie dieser Teil der Wirklichkeit beschaffen ist. Und vielleicht eine winzige Möglichkeit in uns selbst finden, dem entgegen zu wirken, Trost zu spenden, oder etwas besser zu machen als die Male zuvor.

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