Lesetagebuch Schauergeschichten (4)

Am Dienstag „Leni weint“, die Essaysammlung von Péter Nádas ausgeliehen, gleich beim Hereinlesen in den ersten Essay bekomme ich das Gefühl, dass er eigentlich etwas zur Entstehung der Schauergeschichten erzählt, dabei ist „Behutsame Ortsbestimmung“ 2006 entstanden. Also fast 20 Jahre alt. Aber dort beschäftigt sich Nádas mit dem Dorf, in dem er lebt, mit den Eigenheiten des Dorfes, das wie ein „kollektives Gedächtnis“ arbeitet. Er schreibt: „Wenn das Dorf etwas tut oder wahrnimmt, dann haben weder die Handlung noch die Wahrnehmung ein Subjekt; eine Person beziehungsweise die an der Handlung oder Wahrnehmung beteiligten Personen werden rituell vom kollektiven Bewusstsein verschlungen.“ So lange werden diese Beobachtungen im Autor gearbeitet haben, bis dann endlich dieser Roman entstehen durfte, entstehen musste.

Allerdings befinde ich mich beim Lesen der Schauergeschichten gerade beim Dorfpfarrer, der ein umgänglicher Mann zu sein scheint, der gerne lacht, und bei dem Petruschka den Sohn der Zwergin „wie einen Mantel“ abgibt, weil sie nicht weiß, wie sie sich sonst wehren soll gegen die körperliche Anziehung, die Imre auf sie ausübt.

Unterdessen geschehen schreckliche Dinge, sieben Menschen einer internationalen Hilfsorganisation sterben, in Finnland erschießt ein Zwölfjähriger einen Zwölfjährigen und verletzt weitere Kinder, und das sind nur zwei Spitzen eines Eisberges, der schier unendlich zu sein scheint. Auch dazu passt Nádas Beobachtung eines kollektiven Bewusstseins. Er erzählt im ersten Essay der Sammlung „Leni weint“ eine tragische und gleichzeitig universelle und zeitlose Geschichte. Die ich natürlich nicht nacherzählen kann, und es auch nicht will. Nádas schreibt: „Der Begriff Dorf hat jedoch noch einen weiter gefassten, abstrakteren Sinn. Er umfasst nicht nur alle, die zu uns gehören, ihre Wahrnehmungen und Handlungen, alle, die uns durch Blutsbande nahestehen samt ihrem Tun oder Lassen, sondern auch den vollkommen kollektiven Bewusstseinsinhalt, an dem jeder teilhat. Außerhalb des Dorfwissens existiert kein Wissen.“ In der Geschichte, die Nádas zur Illustrierung dieses Definition erzählt, wirkt sich dieser besondere Dorfsinn für einen tödlich aus, während die restlichen Menschen durchaus davon profitieren.

Und diese Überheblichkeit, dieser Glaube, außerhalb unserer Welt gäbe es kein Wissen, ist doch die Grundlage für jegliche Konflikte, für die ganz kleinen zwischen den Menschen und die großen zwischen Nationen.

Es regnet seit Tagen, im Baum vor dem Fenster sitzt eine Taube, beharrlich, als würde sie auf etwas warten.

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