Emilie Pine schreibt Essays, die auf sehr persönliche und teilweise schmerzhafte Art davon erzählen, was es bedeutet eine Frau zu sein. Und mir wird beim Lesen noch einmal deutlich, dass es all das nicht gab, als ich eine junge Frau war, also solche Bücher, solche Texte, auch soziale Medien gab es ja nicht, wo vielleicht so etwas wie #metoo möglich gewesen wäre. Wie viele von uns mit dieser Misogynie, dem Gefühl, minderwertig zu sein, aufgewachsen sind. Und, was viel schlimmer ist, dass es teilweise immer noch so ist. Dass es einfach nicht aufhört. Wie selbstverständlich und normal ich all die Diskriminierung mein Leben lang gefunden habe.
Ich lese “Das steht nicht im Lehrplan”, und auf einmal wird mir klar, ich habe während meiner Schullaufbahn nicht (nur) deshalb schlechte mündliche Noten gehabt, weil ich schüchtern war, sondern weil ich ein Mädchen war. Plötzlich kapiere ich das. Den Zusammenhang zwischen meinen Söhnen, die ebenfalls schüchtern waren, aber immer gute mündliche Noten bekamen, und meiner anderen Schüchternheit, der eines Mädchens, diesen Zusammenhang hatte ich nie herstellen können.
Und mir kommt, da Pine von Benotungen erzählt, von Höchstleistungen und 100 Punkten, die eben nur jeweils ein Kind erhalten kann, und wie sie daher zweimal 99 Punkte bekam und als sie nachfragte warum, für welchen Fehler dieser eine Punkt verloren gegangen sei, die Antwort erhielt, es kann nur einen geben und derjenige ist eben ein Junge. Bei dieser Geschichte kommt mir wieder mein Diplom in den Sinn. Wie ich später, nach der Verleihung der Diplome, von einem meiner Betreuer erfahren habe, dass ich bis zuletzt im Rennen gewesen bin bei der Prämierung der besten Diplomarbeit. Es gab eine gewisse Geldsumme und eben Aufmerksamkeit, und ein Student hatte gewonnen, mit einem wirtschaftlichen Thema. Wirtschaftssoziologie dachte ich damals, ist eben vermutlich irgendwie aktueller und relevanter als historische Soziologie, also meine Diplomarbeit. Aber vermutlich war es keine geringe Nebensache, kein Zufall, dass der Mitbewerber, der schließlich den Sieg davon trug, eben ein Mann war. Und der Tod und das Sterben über das ich historisch vergleichende Studien angestellt hatte, nicht wettmachen konnten, dass ich „nur“ eine Frau war.
Aber wie gesagt, damals war das in Ordnung für mich. Ein Schulterzucken, eine Überraschung überhaupt mit im Rennen gewesen zu sein, und dann war das alles keinen Gedanken mehr wert.
Ich meine, es ist ja eine Sache, sich nicht zu wehren. Eine andere es überhaupt nicht zu merken.
Erst seit #metoo, erst seit solchen Essays, begreife ich, was mir widerfahren ist.
Meine Unwissenheit erschüttert mich. Sie erschreckt mich und macht mich wütend. Nur auf wen soll ich die Wut richten? Auf mich selbst und meine Dickfelligkeit? Auf das System, das sich nur schwerfällig ändert? Oder soll ich sie einfach sein lassen, diese Wut, damit sie sich (in mir) in etwas Konstruktives verwandeln kann.
Oh. Ich bin dann wohl ähnlich dickfellig und habe, wie du, diesen Zusammenhang bisher ignoriert. Da hast du etwas losgetreten in mir. Danke fürs Reflektieren und Aufschreiben.
Berührend, das zu lesen. Ungerechtigkeiten der eigenen Biografie, für die es keine unmittelbar “Schuldigen” gibt, wie im von dir geschilderten Fall, sind schwer auszuhalten. Große Kunst, seinen inneren “Frieden” damit machen zu können.