Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Seltsam, denke ich schon seit einer Weile, dass niemand über die Ähnlichkeit des Titels zu John Burnsides „Lügen über meinen Vater“ spricht. Ich habe mir jetzt vorgenommen den Burnside Roman demnächst noch einmal zu lesen, denn ich erinnere mich nur noch schleierhaft an den Inhalt.

Wiebke Probomka schreibt über die Mutter in Dröschers Roman von einem „Korsett“ der Ehe, ich glaube Dröscher selbst benutzt diesen Begriff einmal. Das finde ich sehr passend, denn ein großer Teil der frostigen Stimmung, der ständig in der Luft schwebenden Enttäuschungen, liegt in den Schönheitsbildern der Zeit, denen die Mutter nicht entspricht, sie ist nicht zeitgeistgemäß rank und schlank, sondern dick. Etwas, das ihr der eigene Ehemann offenbar nicht verzeihen kann. Dröscher selbst schreibt davon, dass die Mutter, die in sehr beengten Verhältnissen aufgewachsen ist, von Anfang an keinen Raum für sich zugestanden bekommen hat. Die alte Geschichte und ewige Aktualität von Virginia Woolfs „Ein eigenes Zimmer“. Dröschers Mutter darf einfach nicht sein wer sie ist. Die Eltern verzeihen ihr nicht, dass ihre Geburt die Mutter gesundheitlich gefährdet hat, der Mann verzeiht ihr ihre Figur nicht, schlimmer noch erlebe ich beim Lesen, wie wenig er ihr den beruflichen Erfolg gönnt, wie wenig Gleichberechtigung er ihr zugesteht, das tut mir beim Lesen beinahe weh.

„Es war wie im Kalten Krieg, nur dass ich keine Ahnung hatte, wer von beiden jetzt der OSTBLOCK war.“

Verletzungen, Missverständnisse, unausgesprochene und unreflektierte Erwartungen, all die Zwänge, denen die Mutter ausgesetzt ist, sind beim Lesen schwer zu ertragen. Die haltlose Überforderung der Mutter, der einfach alles aufgebürdet wird, ohne jegliche Anerkennung. Wie sie bei all dem, diejenigen, die Hilfe benötigen nie aus den Augen verliert.

Die Erzählung wird immer wieder durch reflektierende Abschnitte ergänzt. Das mindert den Lesefluss nicht im geringsten, es ist eher so, als würde Dröscher, die Erkenntnisse, die sie durch ihr Erzählen gewonnen hat kurz in Fakten einbetten und rückkoppeln an die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit.

Auch die Benennung der „Lüge“ bereits im Titel ist wunderbar vielschichtig. Gleich zu Beginn erzählt Dröscher davon, dass diese Geschichte über die Mutter notwendigerweise eine Lüge sein muss:

„Wenn ich meine subjektive Wahrheit über das Geld und alles andere herausfinden will, muss ich meine Eltern in Figuren verwandeln. Figuren, die mir dabei helfen, zu verstehen, wer hier eigentlich welche Lügen über wen erzählt hat.“

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben, schrieb Joan Didion, und Daniela Dröscher zeigt, dass diese Geschichten immer gleichzeitig wahr und gelogen sind, unsere Wahrheit ist nicht diejenige der anderen, jede Perspektive hat ihre eigene Wahrheit und allein deshalb kommt keine Geschichte ohne Lügen aus. Aber es geht natürlich auch darum, dass sich in diesem Buch jeder ein Bild von der Mutter macht und statt dieses Bild mit der Wirklichkeit abzugleichen, verlangt nicht nur der Vater, dass die Mutter dem Bild entsprechen soll. Die Mutter sieht schließlich häufig keinen anderen Ausweg, als ihrerseits die Wahrheit ein wenig zurechtzubiegen.

Es scheint fast, als müsste die Mutter sich mit dem Gewicht ihres Körpers dagegen wappnen, als Sündenbock für nahezu alles herhalten zu müssen. Eine der ungeheuerlichsten Stellen des Romans ist der Vorwurf des Vaters, für seine berufliche Erfolglosigkeit sei der Körper seiner Frau verantwortlich. Sein übergriffiges Verhalten, als sei der Körper seiner Frau sein Besitz.

Rassismus, Sexismus, Kalter Krieg, Patriarchat, vererbte Traumata, alles ist in diesem Roman enthalten, ganz deutlich und doch aufgehoben in einer Erzählung. In Fäden, die sich miteinander verknüpfen. Die Erzählung entwickelt sich, so dass ich gemeinsam mit der Autorin, Schicht um Schicht einer Familiengeschichte aufdecke, die zugleich die Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren ist. 

Der grundlegende Unterschied zu Gamillscheg mit ihrer experimentellen, aber eben auch sehr abstrakten Herangehensweise, ist das spürbar aufrichtige Erkenntnisinteresse bei Dröscher. Hier wird weder angeklagt noch bemitleidet, es geht darum, herauszufinden, was gewesen ist, und warum die Dinge sich so entwickelt haben, wie es eben geschehen ist.

2 thoughts on “Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

  1. Ich lese hier den dritten Hinweis zu diesem Buch. Längst bin ich überzeugt, diesen Roman bald lesen zu wollen.
    Alle von mir gelesenen Stellungnahmen zum Buch sind sehr positiv.
    Interessant auch der Umgang mit “Wahrheit”. So viele Menschen wollen DIE Wahrheit gepachtet haben und achten nicht darauf, dass Wahrheiten Ansammlungen von Wahrnehmungen sind – von subjektiven(!) Wahrnehmungen. Und darum kann es auch niemals die EINE Wahrheit geben.

    Eine Elternbeziehung dieser Art habe ich auch erlebt, weshalb mich der Inhalt dieses Buch wohl auch abholen wird.
    Ich bin der Überzeugung, dass man als erwachsenes ICH Verantwortung übernehmen muss – nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Gelingen von Beziehungen. Und wenn Verbindungen scheitern, dann braucht es wohl auch die nötige Konsequenz, den Mut und die Kraft, zu gehen.

    Vielen Dank für den eindrücklichen Kommentar, nun muss ich nur noch zum Kauf des Buches schreiten!
    Liebe Grüße, C Stern

    1. Danke sehr für deinen ausführlichen Kommentar.
      ich persönlich unterscheide immer gerne zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Wahrheiten gibt es in zwischenmenschlichen, und insbesondere in erinnerten Zusammenhängen, tatsächlich nicht. Bestenfalls deckungsgleiche Geschichten.
      Ja, und die von dir angesprochene Verantwortung ist noch einmal ein anderes großes Thema. Das schwingt in dem Buch auch mit.
      Bin gespannt, wie es dir gefallen wird und welche Eindrücke du aus der eigenen Lektüre gewinnen wirst.

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